Eine neue Sicht auf den visuellen Kortex

Erläuterung am Ende des Artikels

Theoretisches Modell erklärt Eigenschaften sensorischer Neuronen und Netzwerke.

Vor fast vierzig Jahren wurden David H. Hubel und Torsten N. Wiesel für ihre herausragende Arbeit zu neuronalen Sehmechanismen mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ausgezeichnet. Eine ihrer bahnbrechenden Entdeckungen war, dass sie orientierungsselektive Neuronen im primären visuellen Kortex (V1) als entscheidenden Baustein der visuellen Wahrnehmung definierten.

Im visuellen Kortex von Katzen fanden die Forscher Neuronen, die eine spezifische Orientierung des Lichts bevorzugen. Sie schlossen, dass diese Neuronen zur Kantenerkennung dienen könnten. Diese Eigenschaft tritt zum ersten Mal im Kortex auf; in der Netzhaut und im seitlichen Kniehöcker (der Schaltstation zwischen Netzhaut und V1) reagieren Neuronen noch auf alle Orientierungen.

Wie mittlerweile durch moderne bildgebende Verfahren bekannt ist, sind orientierungsselektive Neuronen auf der Kortexoberfläche systematisch angeordnet: Sie bilden eine sogenannte Orientierungskarte. Neuronen ähnlicher Selektivität befinden sich nah beieinander, wobei die Übergänge zwischen unterschiedlichen Orientierungen im Allgemeinen nahtlos verlaufen. Allerdings weisen diese Karten auch spezifische Einzigartigkeiten auf: Stellen, an denen Zellen mit allen Orientierungen nebeneinander liegen (sogenannte "pinwheels") und nicht-lineare Zonen. Viele Modellierungsstudien aus verschiedenen theoretischen Perspektiven haben versucht die Mechanismen, die für die Entstehung dieser orientierungsselektiven Neuronen zuständig sind, zu identifizieren sowie festzustellen, wie die Orientierungskarten mit den beobachteten Eigenschaften daraus entstehen.

In einer neuen Veröffentlichung im Journal Biological Cybernetics stellen Sadra Sadeh und  Stefan Rotter aus dem Exzellenzcluster BrainLinks-BrainTools und dem Bernstein Center Freiburg ein neues Modell vor, welches biologisch realistische Konnektivität als Erklärung für sowohl die Statistik als auch Geometrie von neuronalen Projektionen vom Kniehöcker zum Kortex sieht. In ihrem Modell wird jedes kortikale Neuron von einer Vielzahl von Neuronen des Kniehöckers kontaktiert, was es empfindlich für Lichtreize in einer großen Region des Sehfeldes macht. Zusätzlich sind Verbindungen, die den Kniehöcker mit dem Kortex verbinden, auf der Kortexoberfläche nicht gleichmäßig angeordnet. Diese Faktoren, die in Experimenten festgestellt werden konnten, ergeben ein theoretisches Modell, das Orientierungsdaten erzeugt, die besser zu Daten aus neurobiologischen Experimenten als bisherige Modelle passen.

Das Model der Freiburger Forscher bietet weiterhin eine Erklärung für andere Eigenschaften dieser Orientierungsdaten, insbesondere für ihre Verbindungen mit der Retinotopiekarte (wie sich das Sehfeld auf der Kortexoberfläche abzeichnet) sowie mit der Karte der Augendominanz (wie kortikale Neuronen differenziert auf beide Augen reagieren). Der nächste Schritt wird sein, die Eigenschaften dieser Karten zu quantifizieren und die Prognosen des Modells weiter zu testen.

 

Originalveröffentlichung:

Sadra Sadeh and Stefan Rotter (2013) Statistics and geometry of orientation selectivity in primary visual cortex. Biological Cybernetics, online-Publikation

Bildtext:

(A) Unter der Annahme gebündelter Projektionsmuster vom Thalamus zum Kortex (schwarze Kreise) zeigen Neuronen in diesem Modell Orientationsselektivität als Ergebnis eines verlängerten rezeptiven Felds (für das mit weißem Kreuz markierte Beispielneuron gezeigt). Weiterhin ist die Orientationsselektivität geregelt angeordnet, ähnlich wie die im V1 von Katzen und Affen (B).